Dr. Joe Medicine Crow

Die Minusgrade hielten den kleinen Jungen nicht davon ab, barfuß durch die schneebedeckten Weiten Montanas zu rennen. Sein Stiefgroßvater, Kriegshäuptling White Man Runs Him, der schon in der sagenumwobenen Schlacht um Little Big Horn gekämpft hatte, brachte ihm das Handwerk des Kriegers bei. Reiten, schießen, fährtenlesen - der kleine Junge tat, wie man ihm auftrug. Denn seit Generationen verteidigten die Absarokee (die Krähen) ihre Länder gegen die Dakota und Cheyennen, verfeindete Stämme, und Kriegeskunst war Tradition in der Familie und seinem Umfeld. Und er, Joseph Medicine Crow, wusste, dass er in große Fußstapfen treten würde. Doch Joseph wusste sowohl Muskeln, als auch seinen Kopf zu nutzen. Als erster Angehöriger des Stammes schloss er ein Studium ab. Er promovierte gerade in Anthropologie, als der zweite Weltkrieg ausbrach, woraufhin die Promotion ausgesetzt wurde und er zwei Jahre in einer Schiffswerft arbeitete. Nach der japanischen Attacke auf Pearl Harbour, entschied er sich für einen Exkurs nach Europa, um den Weg des Kriegers zu gehen und wurde Teil der 103. Infanteriedivision. Um im Stamm der Krähen als Kriegshäupting angesehen zu werden, muss ein Krieger 4 Prüfungen ablegen.

1. Einen lebenden Feind berühren, ohne ihn zu töten.
2. Die Waffe eines Feindes an sich nehmen.
3. Das Pferd eines Feindes stehlen.
4. Eine siegreiche Kampfgruppe führen.


Wenn Joseph in Frankreich in die Schlacht zog, malte er sich rote Linien auf den Arm, wenngleich man diese unter seiner Uniform nicht sehen konnte. Unter seinem Helm steckte er sich eine gelbe Adlerfeder, die von einem Sun Dance Medizinmann geweiht war - sie schützte ihn vor Unglück. Am 15. März 1945 beauftragte ihn sein Kommandant, eine Truppe von 7 Mann in den Kampf zu führen. Mit TNT ausgerüstet, sollten sie einen Bunker am Westwall, von den Alliierten Siegfried Line genannt, stoßen. Seit August des verganenen Jahres war diese Trennlinie Ziel allierter Bombardements, der Erfolg blieb aus. Joseph war auf einer Selbstmordmission - sein Kommandant sagte ihm “wenn irgendwer das schaffen kann, dann bist das wahrscheinlich du”. Sie kämpften sich durch Stacheldraht und feindlichen Beschuss, platzierten das TNT und stießen durch den Westwall. Er hatte die erste Prüfung absolviert. Als er ein kleines Battallion durch eine deutsche Stadt befehligte, lief er an einer Häuserecke in einen deutschen Soldaten. Durch den Zusammenstoß ließen beide ihre Waffen fallen und begannen, aufeinander einzuprügeln. Joseph, der seine Jugend für diesen Moment trainiert hatte, würgte den Soldaten und war bereit, ihm das Genick zu brechen, als der junge Deutsche verzweifelt begann, nach seiner Mutter zu flehen. Joseph konnte ihn nicht töten. Er ließ ihn laufen, nahm sein Gewehr und kehrte zu seinen Kameraden zurück.

Am nächsten Tag diente er als Kundschafter für die 103. Division, um von einer Hügelposition nahe der Donau feindliche Truppenbewegungen aufzuklären. Nach einiger Zeit bemerkte er Pferde. Durch sein Fernglas konnte er am Horizont erkennen, dass sie von deutschen Soldaten geritten wurden. Er folgte ihnen. Als sie sich in einem Bauernhaus niederließen, kehrte er zu seinem Battallion zurück. Sie umstellten das Haus und planten, am frühen Morgen anzugreifen. Kurz vor dem Angriff verkündete er einen Plan, dem von dem Kommandanten stattgegeben wurde. Er schlich sich in Richtung des Gehöfts, vorbei an zwei deutschen Wachen, bestieg das ihm am mächtigsten scheinende Pferd, stieß einen Kriegsschrei aus - und löste damit eine Stampede aus. Er ritt, aus voller Kehle ein Stammeslied singend, davon, rund 50 Pferde der SS-Männer hinter sich. Als er mit den Pferden außer Reichweite war, dröhnten die Kanonen der US-Atillerie und töteten die SS-Männer. Ein kleiner Sieg war errungen und Joseph hatte alle Prüfungen erfüllt. Mit seiner Rückkehr nach Montana wurde er der letzte große Kriegshäuptling des Stammes der Absarokee.

2012 wurde Joseph Medicine Crow von Präsident Obama mit der Freiheitsmedallie ausgezeichnet, der höchsten US-Auszeichnung für Zivilisten. 2016 verstarb der Mann, mit dem man Pferde stehlen konnte, im Alter von 102 Jahren.