Streiks & COVID in New York, April 2020.
Wer in diesen Tagen in einer New Yorker Wohnung sitzt, wird von regelmäßigen Sirenen vorbeirauschender Krankenwagen beschallt. Jedes Heulen bedeutet tausende Dollar an Kosten für jene, denen eigentlich geholfen werden sollte. Jede Behandlung birgt die Gefahr des potenziellen Ruins für Patienten. Die einkommensschwachen Gegenden der USA, insbesondere New York, wo sich das COVID19-Virus am rasantesten ausbreitet, werden alleine gelassen. Denn eine ausreichende Gesundheitsversorgung kann sich nur leisten, wer einen guten Job hat.
Dieser elitäre Zirkel schrumpft von Tag zu Tag. Allein 6,6 Millionen Menschen meldeten sich in der letzten Woche arbeitsuchend. Viele Unternehmen haben seit Beginn der Krise ihre Mitarbeitenden schlichtweg entlassen - insbesondere in den paradoxerweise „right to work states“ genannten Staaten, die Arbeitgebern unzählige Freiheiten geben, grundlose Kündigungen auszusprechen.
Die Folge ist ein immenser Konkurrenzdruck in den neuerdings als “systemrelevant” geltenden Berufen. Im Supermarkt, beim Paketdienst und in der Pflege hat sich das Arbeitsvolumen vervielfacht, ebenso der Umsatz der in diesen Branchen operierenden Unternehmen. Die Gehälter blieben gleich – dem Gesundheitsrisiko zum Trotz.
Wer den Anforderungen nicht gerecht wird, kranke Angehörige pflegen muss oder selbst erkrankt, muss auf Gehalt verzichten. In medizinischen Notfällen oder bei Todesfällen in der Familie könnten andere Arbeitnehmende ihre bezahlten Krankentage spenden, hieß es dazu Mitte März aus der WholeFoods-Zentrale, einer Supermarktkette, die zu Amazon gehört. Kein Ausnahmefall, sondern die Regel:
Die Regulatorien zu bezahlten Krankentagen werden nicht auf Bundes-, sondern auf bundesstaatlicher Ebene festgelegt. In New York dürfen Arbeitnehmer so ganze 40 Stunden im Jahr krank zuhause bleiben, jede weitere Stunde wird fortan nicht mehr bezahlt. Das trägt dazu bei, dass Menschen krank zur Arbeit kommen, um ihre Miete und ihr Essen bezahlen zu können und treibt damit die Verbreitung des Virus voran. Die hochgefährlichen Jobs mit Kundenkontakt sind dennoch begehrt wie selten zuvor. Viele wissen nicht, wie sie sonst ihre Miete bezahlen sollen – Obdachlosigkeit und die Gefahr zu verhungern sind reale Ängste.
In diesem Klima mag es verwundern, dass im letzten Jahr nur 6,2% der Arbeitnehmer im privatwirtschaftlichen Sektor gewerkschaftlich organisiert waren. Millionenschwere Werbekampagnen gegen Gewerkschaften, die konsequenten Kündigungen aller, die sich organisieren, haben Wirkung gezeigt.
Trotzdem ändert sich die gesellschaftliche Wahrnehmung: viele Arbeitnehmende kämpfen dafür, dass zumindest ihr Grundbedürfnis zu überleben Beachtung findet. Sie fordern effiziente Hygienemaßnahmen, adäquate Bezahlung im Krankheitsfall und Gefahrenzulagen. Mit ihren Arbeitgebenden, Vermietenden und der Regierung haben sie jedoch starke Gegner.
Das bekam kürzlich auch Chris Smalls zu spüren. Der Angestellte in einem Lagerhaus von Amazon in New York organisierte ein Walkout, nachdem Amazon mehrere Corona-Erkrankungen unter den Teppich gekehrt hatte und sich weigerte, das Lager ausreichend zu desinfizieren. Smalls, Vater dreier Kinder, ist nun arbeitslos. Arbeitskraft ist ersetzbar. Dennoch stehen viele für ihre Rechte ein: in Pittsburgh streikte die Müllabfuhr, in Birmingham die Busfahrer. In Michigan streikten Beschäftigte von Chrysler, nachdem zwei ihrer Kollegen an Corona starben.
Führende Republikaner hingegen waren sich nicht zu schade, ökonomische Hilfspakete hinauszuzögern, weil diese in ihren Augen zu weitreichende Hilfen für Geringverdienende und zu wenige Finanzspritzen für Großkonzerne beinhalteten. Nun ist ein Paket verabschiedet, das eine Einmalzahlung von 1.200$ für erwachsene Amerikaner vorsieht. Davon ausgenommen sind viele Studierende, über 5 Millionen steuerzahlende Immigranten und mehr.
Solidarität erfahren die Beschäftigten vor allem durch den einzigen Präsidentschaftskandidaten, der sich für eine Jobgarantie für jeden beim Staat ausspricht. Der für eine Krankenversicherung für alle kämpft, keine Unternehmensspenden annimmt und sich zu Gewerkschaften bekennt: Bernie Sanders. Ein Hoffnungsschimmer für viele Marginalisierte, für junge Menschen, für Linke, wo es sie noch oder wieder gibt.
Eine politische Revolution, wie Sanders sie fordert, bleibt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Bewusstsein für den Klassenkampf von oben lässt jedoch auf das eine oder andere Revolutiönchen hoffen. Der Soundtrack dafür ist im Jahre 2020 kein Arbeiterlied – es ist das Heulen der Sirenen.
Der Text wurde redigiert erstveröffentlicht im nd.